Wenn psychologische Begriffe zum Alltag werden

“Ich hab sicher ADHS, weil ich manchmal Termine verchecke.”
“Ich hab Autismus, weil ich Leuten ungern in die Augen schaue.”
“Ja, Depressionen hab ich auch manchmal.”
In den Sozialen Medien stößt man früher oder später auf Psych-Fluencer, die über (vermeintliche) Symptome psychischer Störungen berichten. Häufig kommen diese Informationen von Betroffenen oder selbst erkorenen XY-Coaches. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Halbwahrheiten oder Fehlinformationen kursieren - das ist ein Problem (dazu wurden mittlerweile sogar Erhebungen veröffentlicht).
Bevor ich tiefer einsteige: Es ist super, dass über psychische Erkrankungen aufgeklärt wird. Aufklärung enttabuisiert, macht sichtbar und kann empowern. Und manchmal hilft es Betroffenen, eine Lösung zu finden und andere kennen zu lernen, mit denen sie sich austauschen können.
Das Problem sind die “Wenn du diese 5 Symptome hast, könntest du unter YX leiden”-Videos.
Wahrnehmungsverzerrungen und ihre Wirkung auf Selbstdiagnosen
Psychologiestudierende (und auch Medizinstudierende) stellen, während sie sich mit klinischen Störungsbildern beschäftigen, vermehrt Symptome an sich fest, die sie aktuell lernen. Ihre Wahrnehmung ist also selektiv auf die Lerninhalte gerichtet.
Insofern ist es völlig normal, wenn du dich selbst “diagnostizierst”, wenn du dich intensiver mit psychischen Erkrankungen beschäftigst.
Da eine Wahrnehmungsverzerrung nicht alleine kommt, führen weitere dazu, dass man sich auf eine Diagnose versteift:
- Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): Du schenkst solchen Informationen mehr Beachtung, die zu deiner Idee (oder Diagnose) passen. Uneindeutige Verhaltensweisen wie ein Zu-spät-kommen interpretierst du z.B. als klares Zeichen für ADHS.
- Barnum-Effekt: Vage oder allgemeine Aussagen interpretierst du als sehr zutreffend, weil sie scheinbar spezifisch wirken und du sie auf dich selbst beziehst (z. B. „Manchmal ist mir alles zu viel“).
- selbsterfüllende Prophezeiung: Wenn du denkst, eine bestimmte Störung zu haben, verhältst du dich auch mit höherer Wahrscheinlichkeit so. Das kann dazu führen, dass Symptome tatsächlich auftreten oder verstärkt werden.
- Hypervigilanz: Du achtest übertrieben auf jedes Anzeichen, das zur Diagnose passen könnte.
All diese Wahrnehmungsverzerrungen können sich auf die Bewertung von dir oder von anderen beziehen.
Diagnostik – was Fachleute anders machen
Am Anfang der Reise sind Psychologiestudierende und Laien also ähnlich gewickelt: Sie beschäftigen sich intensiv mit Symptomen und Diagnosekriterien und beziehen alles auf sich selbst.
Psychologiestudierende, die Therapeuten und Kliniker werden, lernen jedoch, dass Symptome niemals isoliert betrachtet werden können. Diagnosen sind nicht nur reine Symptomchecklisten auf geduldigem Papier. Kliniker (Ärzte und Psychologen) haben Menschen vor sich, die sie als Gesamtes betrachten: Probleme (Symptome), Kontexte, in denen diese Probleme auftreten, wann Symptome besser oder schlechter werden, seit wann sie bestehen und ob es noch weitere Beschwerden gibt, die gerade nicht im Fokus stehen.
Dieses umfassende Bild ist wichtig, weil viele Symptome nicht störungsspezifisch sind. Wenn du unter Konzentrationsproblemen leidest, kann das daran liegen, dass du ADHS hast ODER eine Depression, ein Trauma, zu viel Gras geraucht oder einfach viel zu wenig geschlafen hast. Das menschliche Verhalten und Empfinden befindet sich eben auf einem Spektrum. Die Grenzen zwischen “normal” und im pathologisch-behandlungswürdigen Bereich sind fließend. Herauszufinden, was genau Sache ist, nennt man Differenzialdiagnostik.
Außerdem kommt es vor, dass es keine eindeutige Diagnose gibt. Damit lernen Therapeuten umzugehen und die bestmögliche Behandlung mit dem Patienten zu erarbeiten.
Mit zunehmender Berufserfahrung werden Psychotherapeuten und Psychiater vorsichtiger mit Diagnosen. Sie bringen Hilfe, aber auch Stigmatisierung, Nachteile in Versicherungsfragen oder führen zu Ausgrenzung. Deshalb: Je mehr man weiß, desto vorsichtiger wird man.
Diese Ausführung soll dir verdeutlichen, wieso Psychiater oder Psychotherapeuten manchmal zu anderen Diagnosen oder Bewertungen kommen als du selbst. TikTok Videos und dergleichen können dir einen Anstoß geben, Hilfe zu suchen. Sie ersetzen keine Diagnose.
Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass auch Fachleute Fehldiagnosen machen. Niemand ist perfekt und die Welt der Psyche ist wirklich groß und komplex.
Persönlichkeitsmerkmale und die Tendenz zur Selbstdiagnose
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Studie, die den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Selbstdiagnose-Tendenz untersucht hat, aber Hinweise aus der Forschung zur problematischen Social Media Nutzung erlauben ein paar Hypothesen:
- hohe Neurotizismus-Werte stehen im Zusammenhang mit intensiverer und oft problematischer Social-Media-Nutzung und der Tendenz, Fehlinformationen auf Social Media zu teilen.
- Geringes Selbstwertgefühl & niedrige Lebenszufriedenheit erhöhen die Anfälligkeit für Fehlinformationen.
- Geringe Gewissenhaftigkeit kann dazu führen, dass Aussagen ungeprüft übernommen werden.
INFOKASTEN
Neurotizismus beschreibt das Ausmaß emotionaler Labilität und negativer emotionaler Reaktionen auf Stress, Unsicherheit und belastende Ereignisse. Menschen mit hohem Neurotizismus tendieren zu stärkerem Erleben von Angst, Reizbarkeit, Traurigkeit, Schuldgefühlen und Nervosität.
Gewissenhaftigkeit bezeichnet die Tendenz einer Person, zielorientiert, organisiert, zuverlässig, diszipliniert und verantwortungsbewusst zu handeln. Sie ist ein zentraler Prädiktor für beruflichen Erfolg und gesundheitsförderliches Verhalten.
Solche Persönlichkeitsmerkmalskonstellationen finden sich teils auch bei Menschen mit echten psychischen Erkrankungen, aber eben nicht ausschließlich. Das würde die Selbstdiagnose-Tendenz erklären. Möglich wäre es auch, psychisch gesunde, aber unzufriedene Menschen nach Erklärungen für ihre Unzufriedenheit suchen und eine Diagnose als Antwort finden.
Wenn Vielfalt zur Diagnose wird
Was ich problematisch finde, ist, wenn jede Abweichung als Störung gilt und jedes “normale” Verhalten pathologisiert wird. Brauchen wir wirklich für jede Eigenheit eine Diagnose? Sind wir so unsicher oder brauchen wir Ausreden? Oder wollen wir über Diagnosen auf uns aufmerksam machen?
Für mich konterkariert dieser Ansatz die Bemühung, neurologische Vielfalt als “Neurodiversität” zu beschreiben. Denn mit dem Bestreben, alles zu diagnostizieren, teilen wir wieder ausschließlich in “krank” und “gesund”, “normal” und “abnormal” ein. Für mich fühlt sich das nach Rückschritt und Verengung an. Nicht nach Pluralität und Akzeptanz.
Sehr viele Verhaltensweisen und Verarbeitungsweisen befinden sich im breiten Feld der Norm. Menschen SIND verschieden und das ist erstmal kein Fall fürs ICD10/11.
Reflexion statt Schnellschuss
Um die Hand zu reichen, möchte ich noch ein paar Ideen an die Hand geben, die du umsetzen kannst, bevor du dich sofort “diagnostizierst”.
Frag dich lieber:
- Was verspreche ich mir von dieser Diagnose?
- Welche anderen Erklärungen gibt es für mein Erleben?
- Will ich Verständnis – oder Veränderung?
- Habe ich das Gefühl, Hilfe zu brauchen?
- Fehlt mir jemand zu reden?
Wenn du dich dauerhaft belastet fühlst: Hol dir Hilfe. Eine fundierte Diagnose ist kein TikTok-Test: Sie braucht Expertise, Zeit und Reflexion. Und sie ist immer “nur” der Start einer langen Reise.
Diagnosen brauchen Kontext und Verantwortung
Psychische Begriffe sind keine Lifestyle-Accessoires. Aber sie können ein Schlüssel sein zu mehr Selbstverstehen, zur richtigen Hilfe, zum richtigen Maß.
Du bist mehr als eine Liste von Symptomen. Und bitte: glaub nicht alles, was ein Algorithmus dir über dich erzählt.