Über ein Wort, das wie eine Psych-Diagnose klingt, aber keine ist!

"Der Typ ist ja so toxisch."
"Ich löse mich gerade aus einer toxischen Beziehung."
"Toxisches Verhalten erkennst du an diesen 5 Anzeichen."
Instagram, TikTok, Ratgeberblogs - überall lauert dieser Un-Begriff. Alle nutzen ihn. "Toxisch" ist das neue "schlecht", "krank" oder "vermeide diesen Menschen unbedingt zu deinem eigenen Schutz!".Und das macht mich echt wütend. Nicht, weil es keine destruktiven Beziehungsmuster gäbe oder weil ich will, dass man sich in schädlichen Bindungen aufopfert. Sondern weil dieses Wort immer etwas tut, was es lieber nicht sollte:
Es pathologisiert und stempelt ab. Und das mit einer Audacity, als hätte derjenige oder diejenige die absolute Peilung und hätte die abgestempelte Person vollkommen durchschaut. Dabei ist das meist gar nicht so wirklich der Fall.
Denn "toxisch" ist kein Diagnosekriterium!
Es ist noch nicht einmal ein Fachbegriff der Psychiatrie oder Psychotherapie. Hinter dem Begriff verbirgt sich weder ein klarer Indikator noch ein klinisches Diagnosemerkmal. Es ist lediglich eine oberflächliche Beschreibung. Häufig ist es nur ein undifferenziertes Labeln einer PERSON und es wird nicht einmal zwischen Person und Verhalten differenziert. Geschweige denn über eine Dynamik nachgedacht.
Steig mit mir also ein und schau mit mir an, was "toxisch" wirklich ist und wie du das Wort ersetzen kannst.
Woher "toxisch" kommt und wie es zum Beziehungsetikett wurde
Das Wort "toxisch" hat seine Ursprünge im Altgriechischen (toxikon = Pfeilgift) und im Lateinischen (toxicus = vergiftet). In der Medizin und Toxikologie beschreibt es Substanzen, die den Organismus schädigen oder töten können, also "Giftstoffe" sind (nein, gegen diese Giftstoffe wirken "Detox-Kuren" NICHT).
In der Psychologie war der Begriff lange kein Thema. Erst gegen Ende der 1990er tauchte "toxisch" als Metapher auf. Beispielsweise in folgenden
Kontexten:
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"toxisches Schamempfinden"
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"toxisches Führungsverhalten"
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"toxisches Beziehungsverhalten"
In diesen Kontexten beschreibt "toxisch" jedoch nicht Menschen direkt, sondern dysfunktionale Dynamiken, also Prozesse, die schaden können. Das ist z. B. dann der Fall, wenn Menschen ihre Grenzen nicht mehr spüren, ständig unter Angst stehen oder systematisch abgewertet werden. Es ist eine Metapher. Kein Kriterium. Kein Label.
In der Therapie oder in einem Psychologie-Studium wirst du dieses Wort allerdings eher selten oder gar nicht hören. Dennoch scheint es wie eine Seuche durch den Mainstream zu wabern. Zwar sind
die sozialen Medien NICHT Ursprung dieser Bewegung, aber sie fördern die Verbreitung von undifferenzierten Labeln ziemlich gut. Denn diese Plattformen lieben alles, was kurz oder noch
besser in einem Wort gesagt wird. Deshalb funktioniert dieses Label "toxisch" einfach. Es ist schnell, jede*r hat dazu eine Assoziation, es ist emotional und leider oft falsch.
Wenn ein Wort gleichzeitig zu viel und zu wenig kann
Das Wort "toxisch" wirkt stark (fast so stark wie ein Alpha-Mann). Es hat eine wundervolle klangliche Explosivität. Dadurch wirkt es emotional riesig und wuchtig, was anderen Begriffen oft fehlt. Es klingt wie ein Urteil, ein Warnsignal, eine Klarheit, die tröstet. Und meistens ist es von den Nutzenden genauso gemeint. Was immer mitschwingt:
"Ich bin nicht empfindlich – du bist toxisch."
"Das war nicht meine Schwäche – das war dein schädliches Verhalten."
Aber genau hier liegt das Problem:
"Toxisch" ist mittlerweile eine moralische Keule, die weit entfernt von einer differenzierten Analyse ist. Anstatt Gespräche zu führen, genau
hinzuschauen und die Verantwortung für das eigene Handeln und den eigenen Anteil an missglückten Interaktionen zu übernehmen, wird das Gegenüber abgestempelt und als unveränderlich "giftig"
gelabelt.
Zwar kann es für Betroffene hilfreich sein, ein Wort zu haben, um Erlebtes zu benennen. Es
sei denn, es wird jede schwierige Situation in die "Toxisch-Schublade" gesteckt. Denn dann verheddert man sich allzu leicht in einer unüberwindbaren Opferhaltung - man selbst ist ja schließlich
nur passiv erlebend, DIE ANDERE PERSON ist das Übel. Da ich nichts daran tun kann, muss ich gehen oder aushalten.
Die vermeintlich "toxische" Person wird stigmatisiert. Einmal toxisch, bleibt man das nämlich oft auch (so die Annahme). Wenn man also einmal toxisch ist, ist man raus. Eine Person, mit der man besser nichts zu tun hat. Damit kommt das Label einer Verurteilung gleich. Es wird meist ohne das Nennen des Kontextes und ganz ohne differenzierte Betrachtung der Situation "verliehen".
Dabei möchte ich die schrecklichen Dinge nicht klein reden, die wir Menschen uns täglich gegenseitig antun. Ich möchte in Relation setzen. Ein Streit zwischen Partner*innen oder gar Streitthemen,
die sich nicht lösen lassen, sind wahrscheinlich eher im "normalen" als im "toxischen" Spektrum. Ein Femizid ist nicht toxisch, sondern eine brutale Straftat.
Das Wort "toxisch" macht also Dinge groß, ganz unabhängig davon, wie groß sie wirklich sind. Es führt in die Sackgasse, wo es häufig noch Wege geben würde. Gleichzeitig relativiert es Taten, die eine klare Benennung benötigen!
Und es gibt noch ein weiteres Problem, auf das ich hier eingehen möchte.
"Toxisch" ersetzt keine Diagnose
Immer wieder höre ich:
"Mein Ex war toxisch, ein richtiger Narzisst."
Oder:
"Meine Chefin ist voll toxisch, sicher ist die Borderlinerin."
Bei solchen Sätzen rollen meine inneren Rollläden ganz langsam zu. Denn das ist ein gefährlicher Trend:
"Toxisch" wird in solchen Aussagen mit meist schwerwiegenden klinischen Diagnosen rücksichtslos zusammengewürfelt. Das Label wird als vernichtender Shortcut für Eigenschaften verwendet, die uns nicht gefallen oder für Beziehungen, die uns verletzt haben. Das eigene Gefühl und das automatisierte auf den Anderen schauen wird damit mit klinische Diagnosen gleichgesetzt und von fachlichen Analysen und evidenzbasierter Sprache ersetzt. Und das ist ein echtes Problem.
Warum?
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Weil es Menschen pathologisiert, die vielleicht einfach nur schlecht kommunizieren (oder vielleicht nicht einmal das).
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Weil es den Raum für Selbstreflexion verkleinert (oder sogar ganz obsolet zu machen scheint).
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Weil es fachliche Begriffe unscharf macht und viele Missverständnisse fördert.
- Weil es Menschen, die wirklich von klinischen Störungen betroffen sind, abwertet.
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Weil es echten Missbrauch und klinische Störungen relativieren kann (was das Gegenteil dessen ist, was "toxisch" bewirkt werden soll).
Ganz schön problematisch, oder?
Lass uns jetzt mal schauen, was der Begriff bewirkt hat und wie man's auch ohne besser machen kann.
Was man stattdessen sagen kann (und sollte)
Was dieses Label bringt, sind zwei Dinge: Wir werden sensibler für Grenzen und sprachfähig, wenn sich etwas schlecht anfühlt. Das Label als Zwischenschritt zu verwenden bis du dich selbst besser ausdrücken kannst, könnte also in den Graubereich der Okay-Zone rücken.
ABER:
Solltest du weder Psychotherapeut*in, Psychiater*in oder Expertise in klinischer Diagnostik haben, hast du ein ganz großes Privileg: Du musst dich nicht wirklich auskennen mit Diagnosen und du musst gar nicht psychologisieren oder diagnostizieren. Spannenderweise tun das die Profis nämlich weniger als die, die neugierige Laien sind.
Was ich damit sagen will ist: Weniger wildes Rumlabeln ist mehr.
Was du jedoch tun darfst und auch solltest ist, genauer zu werden und "toxisch" gegen das zu tauschen, was du beschreiben und ausdrücken willst!
Statt "toxisch" zu sagen, frag dich:
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War die Beziehung von Kontrolle geprägt?
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Wurden Grenzen wiederholt verletzt?
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Gab es emotionale Manipulation?
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Hast du dich isoliert, herabgesetzt, eingeschüchtert gefühlt?
Das sind Anzeichen für destruktive Muster. Sie sind beschreibbar ohne Menschen in "gut" oder "toxisch" einzuteilen. Es geht um Verhalten. Nicht um Etiketten. Das Beschreiben hilft, Ordnung in dein Inneres zu bringen. Gerade in schädlichen Beziehungen verbirgt sich hinter "toxisch" eine große Leidensgeschichte, in der Gefühl und Gegebenheiten wild durcheinanderhüpfen und dadurch noch überwältigender wirken. Wenn du das Gefühl hast, du warst in einer Beziehung, die dir geschadet hat, dann darfst du das sagen. Du darfst Unterstützung suchen. Du darfst dir Schutzräume schaffen. Aber du brauchst dafür keine Pop-Diagnose.
Auch wenn die oben genannten 4 Punkte NICHT zutreffen, lohnt es sich, deine Gefühle und Situationen mehr zu beschreiben als zu labeln. Denn damit holst du dich selbst aus dem Sumpf und reduzierst
dich nicht auf ein Opfer-Dasein.
Beziehungen gehen auseinander, auch wenn keine Person darin "toxisch" war.
Leute verstehen sich manchmal einfach nicht. Dazu benötigt es kein "toxisch". Ehrlicher wäre zu sagen: "Die Person ist mir sau unsympathisch".
Das macht Begegnung möglich und ordnet deine Beziehung zu anderen Menschen deutlich besser ein. Du bist damit besser in der Lage, einen Umgang mit unangenehmen Situationen und Personen zu finden.
Auch wenn der Umgang manchmal bedeutet, eine Reißleine zu ziehen.
Eine kleine Spitze möchte ich an dieser Stelle setzen: Ich beobachte oft, dass die Menschen, die alle anderen als "toxisch" labeln ganz häufig die "toxischsten" im Raum sind...
Fazit: Toxisch ist kein Diagnosekriterium. Und das ist gut so.
Wenn wir Begriffe so verwenden als wären, als wären sie moralische Urteile, dann werden wir blind für unsere eigenen Anteile, für strukturelle Zusammenhänge, für menschliche Komplexität.
Der Begriff "toxisch" ist populär, weil er schlagkräftig ist.
Aber in der Psychologie geht es nicht um Schlagworte. Es geht um differenziertes Hinsehen und Verstehen.
Wenn du also das nächste Mal jemanden "toxisch" nennen willst, frag dich lieber:
Was genau ist passiert? Was hast du gefühlt? Und was brauchst du eigentlich?
Denn damit ermöglichst du dir Begegnung und einen wundervollen Start für echte Veränderung.