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Dein Gefühl ist nicht die Wahrheit – und das ist gut so

"Du darfst deinem Gefühl trauen."

 

Sagte diese Instagram-Kachel im Brustton der Überzeugung, dass mein Gefühl mir IMMER die WaHRheiT sagt.
Damit war mein Doomscrolling für den netten Feierabend-Hirnfriedhof zu Ende. Ich schloss die App und da sind wir jetzt. Also ich, der Blog und du wohl auch.
Achtung: Ich weiß, dass ich mich gleich möglicherweise unbeliebt mache.

 

Denn: Nein! Dein Gefühl ist nicht die Wahrheit. Meins übrigens auch nicht.
Es ist zwar nicht falsch. Aber es ist eben weder Beweis noch Argument für irgendwas außerhalb von dir. Es ist eher ein Echo, eine Reaktion oder ein sehr persönlicher Kommentar auf das, was du erlebst oder einmal erlebt hast – nicht das, was ist.

Was Gefühle sind – und was sie nicht sind

Gefühle sind keine unumstößliche Wahrheit.
Sie sind Wirklichkeit. Und das ist ein großer Unterschied.

Wenn du wütend bist, bist du nicht automatisch im Recht. (Auch das Gegenteil á la „Wer schreit, hat Unrecht“ ist nicht unbedingt wahr).


Wenn du traurig bist, hat dir nicht zwingend jemand Unrecht getan.
Wenn du Angst hast, ist die Situation nicht automatisch gefährlich.
Und wenn du dich sicher fühlst, kann trotzdem gerade alles den Bach runtergehen.

 

Klingt das hart oder neu? Dann willkommen im Basiskurs der evidenzbasierten Emotionspsychologie.

Gefühle oder treffender: Emotionen sind psychophysiologische Reaktionen auf bedeutsame innere oder äußere Reize.
Sie entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern eingebettet in deine Erfahrungen, dein Nervensystem, deine Gedanken, deine sozialen Prägungen. Oder anders gesagt: Deine Vergangenheit und wie du diese bewertet und verarbeitet hast, schreibt bei jeder Emotion mehr oder weniger mit.

 

Emotionen sind dennoch nicht einfach zum Spaß an der Freude da. Sie haben evolutionsbiologische Funktionen, die uns Handlungshinweise geben sollen: Angst soll schützen. Ekel warnen. Freude verbinden. Wut Grenzen aktivieren und Trauer Verluste verarbeiten.

 

Wie viele Grundemotionen es gibt, darüber streiten sich Forscher*innengruppen. Dabei deuten neuere Evidenzen darauf hin, dass Emotionen eher Konstrukte als hardwired biologische Kategorien sind.

Was Gefühle jetzt allerdings nicht leisten, ist:

  • objektiv analysieren
  • kausal zuordnen
  • Zukunft oder Gegenwart fehlerfrei beurteilen
  • moralisch bewerten

Ein Beispiel:

Du wirst rot, dein Herz schlägt schneller, deine Gedanken rasen.
Du denkst vielleicht: „Ich bin bloßgestellt worden.“
Alles in dir schreit „sozialer Alarm. So reagiert dein System, wenn es in einer Situation ist, in der dein Kopf die gemachte Erfahrung so interpretiert, dass die mit Statusverlust, Ablehnung, Scham, Ohnmacht zu tun haben könnte.

 

Jetzt kommt der „Hack“, den das Insta-Kachel-Zitat dir nicht mehr erzählt: War die Person wirklich abwertend? Hat sie es wirklich absichtlich getan? Ging es wirklich um dich?

 

 

Um die Situation also besser einordnen zu können, brauchst du mehr als dein Gefühl. Du brauchst Kontext, Reflexion, vielleicht sogar Feedback.


Warum es gefährlich wird, Gefühle für Wahrheit zu halten:

Wenn Gefühle ohne Kontexteinbettung zur Begründung für Verhalten oder Urteil, dann landen wir bei:

  • "Ich hab mich so gefühlt – also war es übergriffig."
  • "Ich hab gespürt, dass es die Wahrheit ist."
  • "Ich hab da einfach so ein Bauchgefühl."

Das mag ja irgendwie charmant sein, wenn man sich gegenseitig die Karten legt oder mit der*dem besten Freund*in über jemanden lästert, weil man emotionalen Support wünscht. Aber in Situationen, in denen es um Therapie, Führung, Politik oder Justiz geht, ist es brandgefährlich. Dann werden Gefühle schnell zur Waffe, die keine Lösung mehr zulässt.

 

 

So, lass mich jetzt noch einmal größer ausholen. Denn ich schreib mich hier gerade in Rage. Mir brennt das ganze Thema schon wirklich lange unter den Fingern. Gehen wir mal rein in den ganzen Missverständnishaufen über Gefühle. 


Missverständnisse über Gefühle

Gefühle werden in vielen Coaching-Philosophien und von anderen spannenden Gestalten (übrigens auch von den oft so sehr verteufelten Narzissten und „Psychopathen“) gern wie Jokerkarten gespielt. Sobald sie auf dem Tisch liegen, ist Schluss mit Diskussion: "Das ist mein Gefühl – das darfst du mir nicht absprechen!"

 

Doch leider beobachte ich immer wieder einen dramatischen Fehlschluss und es werden Tatsachen verwechselt:

Gefühle sind unbestritten real. Aber sie machen keine Aussagen über moralische, soziale oder sachliche Richtigkeit.

Missverständnis 1: „Wenn ich es fühle, ist es wahr“

Nein!

Wenn du eifersüchtig bist, heißt das nicht, dass dein Partner untreu ist.

Wenn du dich ausgeschlossen fühlst, heißt das nicht, dass du ausgeschlossen wurdest.

Wenn du dich angegriffen fühlst, heißt das nicht, dass jemand dich angegriffen hat.

 

Emotionen sind Interpretationen der Situation durch dein Gehirn mit Körperbeteiligung. Sie entstehen aus deiner persönlichen Lebensgeschichte, deinen bisherigen Verletzungen, deinen Denk- und Beziehungsmustern. Du hast das Gefühl, aber das Außen ist objektiv nicht immer direkt verantwortlich für seine Existenz. Es ist im Zweifel nur der Auslöser für deine Emotionskaskade.

Missverständnis 2: „Ich kann nichts dafür – das ist halt mein Gefühl“

Auch falsch.

Du kannst nichts dafür, dass es auftaucht, aber du bist verantwortlich dafür, was du damit machst.

 

Gefühle dürfen sein – Wut, Angst, Traurigkeit, Eifersucht, Neid, Scham, you name it. Aber sobald du andere Menschen beleidigst, bestrafst, anschweigst oder manipulativ agierst, ist das nicht mehr „nur dein Gefühl“. Das ist ein Verhalten. Und Verhalten ist steuerbar.

Missverständnis 3: „Gefühle sagen mir, was ich will“

Naja.

Sie zeigen dir, was dir gerade wichtig erscheint, nicht zwangsläufig, was dir wirklich gut tut.

 

Angst kann dich vom Neuanfang abhalten. (Was Alpha-Coaches für ihr schmissiges Marketing benutzen und von „Geh aus deiner Comfort-Zone“ reden.)

Wut kann dich gegen Menschen richten, die dich lieben.

Traurigkeit kann dich zum Rückzug verführen, obwohl du Verbindung brauchst.

Manchmal wäre es also sinnvoller, nicht deinem Gefühl zu folgen, sondern ihm zuzuhören und nicht gleich zu handeln.

Zwischenfazit

Fassen wir mal kurz zusammen und denken das Ganze nochmal einen kleinen Schritt weiter.

 

Wenn Gefühle die absolute Wahrheit wären, dann hätte jeder Mensch immer objektiv Recht. Das wäre ganz schön kniffelig. Denn ein und dieselbe Situation lösen in unterschiedlichen Menschen sehr verschiedene Reaktionen und Gefühle aus. Wenn man der Aussage folgen würde, dass Gefühle „Wahrheit“ sind, dann müssten alle Menschen gleiche Situationen gleich empfinden. ODER (und das wäre eine wirklich sehr schlimme Annahme, die ein Miteinander unmöglich machen würde) eine*r hat Recht, die anderen fühlen falsch.

 

Vielleicht siehst du jetzt schon, weshalb diese Aussage „Mein Gefühl ist Wahrheit“ und alle anderen kleinen Dogmen sehr kritisch sind.

 

Gehen wir weiter.

 

Wenn jedes Gefühl die absolute Wahrheit ist, dann ist jeder empfundene emotionale Schmerz ein Angriff oder jede Kränkung der Beweis ist, das der andere „böse“ ist (weil mein Gefühl ja richtig ist). Dann ist auf immer der*die andere Schuld!

Dann fangen wir an mit Fingerpointing und statt Ermächtigung, was ja eigentlich die Absicht hinter diesem Wandtattoo-Spruch sein soll, werden wir ganz schnell zum Opfer. Weil wir das, was wir denken und wie wir Situationen beurteilen, unseren emotionalen Automatismen und Reaktionen ausliefern.

 

Statt empowert sein Leben zu führen, lieferst du dich den mehr oder weniger willkürlichen Gefühlen aus.

 

 

Zack – scheiße wars, oder?


Gefühle ernst nehmen heißt, sie hören, ohne ihnen alles zu glauben

Jetzt hab ich mich langsam beruhigt und möchte daher ein paar versöhnliche Worte finden. Vielleicht auch ein paar Anregungen geben, was du aus der Insta-Weisheit machen kannst (ich würde ja Mülleimer vorschlagen, aber ich bin ja schon friedlich).

Wenn Gefühle jetzt nicht die Wahrheit sind, was dann?

Natürlich sollst du deine Gefühle nicht wegdrücken. Es ist aber auch nicht clever, ihnen blind zu folgen. Schau sie ruhig an, verstehe sie und lerne, sie situativ einzuordnen.
Was ist wirklich los? Was brauche ich? Kenne ich das Gefühl aus einer ähnlichen Situation?

 

 

Und Spoiler: Wenn du das immer besser lernst, kannst du DEINE Gefühls-Reaktions-Muster entdecken und wenn sie nicht mehr so nützlich für dein Leben sind, dann kannst du sie verändern. Das kann dann ein Ausstieg aus deinem gewohnten Beziehungsdrama, deinem Gefühl von ständiger Ablehnung und allem möglichen anderen sein. 

Wozu Gefühle da sind und was man mit ihnen tun kann

Gefühle sind zwar keine Wahrheit, aber sie sind auch keine Deko. Sie sind auch kein Hindernis, das man möglichst klein halten sollte, um „funktionieren“ zu können.
Gefühle sind evolutionäre Tools. Sie sind also sinnvoll.

Was Gefühle leisten

Gefühle sind Entscheidungssensoren
Sie helfen dir, schneller zu erkennen, was gut oder schlecht für dich ist, noch bevor du es rational durchgerechnet hast.
Wäre das nicht so, würdest du in Lebensgefahr erstmal eine Pro-und-Contra-Liste schreiben anstatt von der Straße zu laufen, wenn ein Auto auf dich zufährt.

 

Gefühle sind Kommunikationssignale
Wenn du wütend wirst, zeigt dein Körper: „Hier ist eine Grenze!“
Wenn du dich freust, sendest du: „Das ist mir wichtig!“
Andere lesen dich, auch nonverbal. Emotionen wirken in sozialen Situationen immer mit!
Kleiner Sidekick: Dass Gefühle vor allem für unser Miteinander wichtig sind, kann man selbst beobachten. Lachst du über eine lustige Serie oder ein Reel mehr, wenn du alleine bist oder mit anderen zusammen?

 

 

Gefühle sind Selbstregulations-Auslöser
Ein Gefühl sagt dir oft, dass etwas deine Aufmerksamkeit benötigt: ein Bedürfnis, ein Konflikt, ein Wunsch, eine Erinnerung.

Was man mit Gefühlen tun kann (statt sie zu dramatisieren oder zu verdrängen)

  1. Beobachten
    Nicht sofort reagieren. Nimm wahr, was da los ist: Wut, Angst, Scham, Neid – oder eine Mischung?
    Gib dem Gefühl einen Namen. Wenn du’s benennen kannst, kannst du’s auch besser steuern. Ich habe in meiner Zeit als Coachin viele Menschen kennengelernt, für die das allein ein riesiger Schritt war, um sich selbst besser zu verstehen und darüber bessere Lösungen zu finden. Nicht umsonst ist das Erkennen und Benennen von Gefühlen oft Teil von Psychotherapie.

  2. Annehmen – nicht bewerten
    Es ist okay, sich klein, gekränkt oder müde zu fühlen. Du bist nicht falsch, nur weil du emotional reagierst. Aber du bist auch nicht „richtig“, nur weil du es fühlst.
    Erlaub dir, das Gefühl zu fühlen ohne dich gleich damit zu identifizieren und darin „aufzugehen“. Das kann mega unangenehm sein, weshalb die meisten von uns Abwehrreaktionen haben: zurückblaffen, beleidigt sein, den anderen erniedrigen oder was auch immer.

  3. Reflektieren
    Woher kommt das Gefühl? Ist es aus dem Jetzt? Oder ein Echo aus früher? Hat es mit dir zu tun oder mit dem Verhalten anderer? (Kleiner Spoiler: Wenn es immer die anderen sind, dann ist das ein ziemlich gutes Indiz dafür, dass da was nicht stimmt und du dir lieber Hilfe suchen solltest).
    Was sagt das Gefühl über dein Bedürfnis? Und ist das Bedürfnis aktuell realistisch erfüllbar?

  4. Entscheiden, was du tun willst
    Der Schritt ist häufig automatisiert. In Therapien werden solche Entscheidungs- und Handlungsoptionen oft erarbeitet. Zum Beispiel kann bei einer Person mit Selbstverletzungstendenzen erarbeitet werden, welche Emotionen die Aktion auslösen und wie man anders handeln kann, wenn das Gefühl aufkommt. Das Beispiel ist drastisch, in kleinerem Ausmaß kann man das selbst bei jeder Emotion machen (zugegeben habe ich dazu keine Lust und keine Zeit, aber wenn ein Gefühl wirklich aufdringlich wird, ist das echt eine Option).
    Manchmal helfen Gespräche, manchmal Rückzug, manchmal Schreiben, manchmal einfach Atmen. Nicht jede Emotion braucht eine Tat. 

Letzter Gedanke

Gefühle machen dich nicht schwach, sie machen dich zugänglich. Für dich selbst, für andere, für die Welt. Aber nur, wenn du sie nicht zum allwissenden Orakel machst, sondern zum Dialogpartner.

 

 

Du darfst fühlen UND du darfst denken.
Beides zusammen ergibt den Menschen, der du bist.